Ich werde oft gefragt, wie unser Königsberger Dialekt geklungen hat. Wir sprachen Plattdeutsch, Königsberger Platt. Nicht dieses Ostpreußisch, wie man gemeinhin, aber irrig annimmt. Unser Platt ähnelte stark den anderen norddeutschen und friesischen Dialekten. In der Schule wurden wir angehalten, Hochdeutsch zu sprechen. Das änderte sich, sobald wir den Schulhof verließen. Zum Beispiel klangen unsere Abzählreime so:
Eene meene mompel,
De Düvel scheet een Grompel,
De Düvel scheet een groten Grompel.
Eene meene Mompel.
Für Un-Platte hier die Erläuterung: Mompel – das kann man nicht übersetzen, das Wort gibt es nämlich gar nicht. Es ist ein Kunstwort. Irgendwas musste sich ja später auf Grompel reimen. Mit Grompel ist nicht irgendein Haufen gemeint, sondern speziell ein Kackhaufen. De Düvel ist der Teufel und scheet ist die Vergangenheitsform von schieten. Na, und grot bezeichnet den Umfang dieses Haufens. Wir Jungens hatten noch andere Reime, welche allesamt nicht druckreif sind und die wir nur unter uns verwendeten – und auch nur dann, wenn keine Mädchen und Erwachsenen in der Nähe waren. Die kann man an dieser Stelle nicht wiedergeben.
Ein anderer ging:
„De Oma sökt de Brill,
Mank Schlorren und Gemüll,
Ond wo se sonst noch söke konnt.
De Oma sökt de Brill!“
Auf Hochdeutsch klänge das so:
Die Oma sucht die Brill‘
Zwischen Pantoffeln und Gemüll‘
Und wo sie sonst noch suchen könnt‘ –
Die Oma sucht die Brill‘
Zu Hause legten Opa Franz und Oma Lina Wert darauf, dass ich Hochdeutsch sprach, obwohl beide selber auf Platt miteinander plachanderten. Wenn es zum Beispiel frisches Brot gab und ich auf einen Sitz drei oder vier Stullen verputzte, dann kam sicher irgendwann der Einwand: „Jungchen, dat hees Versperbrot ond nich fret di dot!“ Sie stammten aus bescheidenen Verhältnissen und hatten selbst nicht viel zum Leben, aber sie gönnten ihrem Jungchen von Herzen seinen Appetit. Lieber hätten sie selber eine Scheibe weniger gegessen. Mangelnde Bildung führte damals unweigerlich in Mangel und Armut. Der kleine Gerd sollte frühzeitig darum lernen, nach der Schrift sprechen – schließlich sollte er es einmal zu etwas bringen und es besser haben als ein einfacher Arbeiter.
Abschreckende Beispiele dafür, wie es in der Arbeiterklasse zuging, kannten meine Großeltern etliche, auch in unserem Haus. Der Vater meines Kumpels Alfred Drossel war so ein Fall. Drossels wohnten im dritten Stock, der Mann war Bauarbeiter. Freitags gab’s Löhnung, anschließend ging Herr Drossel für gewöhnlich in die Kneipe. Von dort durfte ihn seine Frau nicht herausholen, sonst gab’s handfesten Ärger. Was da wohl die anderen Männer sagen wurden, wenn seine Frau ihn nach Hause zitierte! Um den größeren Teil der kargen Löhnung vor dem Trinkschwund zu retten wurden oft wir Jungen vorgeschickt, um Vater Drossel zum heimgehen zu animieren. Trotz unserer Bemühungen (Jungchens, setzt auch man hin. Ihr dürft auch aus mejnem Glas trinken) kam Herr Drossel oft angetrunken nach Hause – obwohl, sturzbesoffen beschriebe seinen Zustand zutreffender. Die Stiege nach oben schaffte er jedenfalls nicht mehr aus eigener Kraft.
Lautstark, zunächst aber noch liebevoll, lockte er seine Angetraute um Assistenz herbei, sie solle ihn raufhelfen: „Minchen, min Süße, kumm runner ond hol mi rop!“ Auch der nächste Versuch war durchaus noch zivil – nur eben die Lautstärke nicht: „Marjellken, hörst du mi!? Kumm als runner ond hülf mi rop!“ – Trotz seiner Stimmgewalt und aller schmeichelnden Worte blieben seine Bitten jedoch unerwidert. Gehört haben wird ihn Frau Drossel sehr wohl, schließlich war inzwischen das ganze Haus wach. Nur stellte sie sich erst einmal taub. Schließlich wurde der Herr Gemahl ungehalten und in der Folge seine Aufforderungen deutlich derber: „Minna, du olle Su, kömmst du wohl endlich runner! Wart nur, wann ick di krieg! Hey, du ***, wach op!“
Es folgten weitere unfeine Ausdrücke, die ich hier nicht wiedergeben mag. Irgendwann sank er auf der Treppe zusammen und seine Frau traute sich runter. Drossel lallte nur noch unzusammenhängend vor sich hin, blieb aber friedlich. Vermutlich wartete die arme Frau stets so lange, bis der Göttergatte sich müde geschrien hatte und keine Energie mehr zum Aufbegehren hatte – oder zu Handgreiflichkeiten. Alle Nachbarn hörten seinen Ausfällen zwar pikiert zu, blicken ließ sich letztlich aber keiner. Wie gesagt, Herr Drossel schaffte am Bau und war sehr kräftig – auch (oder erst recht) im besoffenen Zustand wollte sich niemand mit ihm anlegen. Manche Probleme regeln sich irgendwann von alleine. Sobald bei Drossels die Tür klappte, konnten die anderen Hausbewohner erleichtert die Ohren von Wohnungstüren und Wänden nehmen und es kehrte endlich wieder Ruhe ein im Haus 1b.
Wenn die Sprache auf unseren Dialekt kommt, fragen mich manche auch nach dem Königsberger Humor. Es gibt sicher viele Königsberger und ostpreußische Witze, aber meistens fällt mir spontan keiner ein. In manchen machten sich die Königsberger über die Einfältigkeit der ostpreußischen Landeier lustig. Einer ist mir dann doch in Erinnerung geblieben:
Die junge, frisch verheiratete Frau Kaludrigkeit erzählt ihrer Freundin: Stell dir vor, Meta, was mir seyt kurzer Zeyt tagtäglich passiert. Da schallt es doch vor knapp zwey Wochen friemorjens an der Tiere. Ich, noch im Nachthemde, geh nachschauen, wer das wohl ist, um die Uhrzeyt. Nu, wie ich so mach auf de Tiere, steht da meyn Nachbar: „Guten Morjen, Frau Kaludrichkeit! Ist ihr Mann zu Hause?“ „Ney“, sage ich, „ich bin ganz alleyne, meyn Mann ist schon bey der Arbeyt!“ Da nimmt mich dieser Mensch bey der Schulter und fiehrt mich ins Schlafzimmer. Na, und dort hat er mich dann bejlickt – eyn paar Mal! Danach ist er eynfach gegangen, ohne eyn Wort zum sagen. Und was soll ich Dir sagen, Meta – am nächsten Morjen genau dasselbe: „Guten Morjen, Frau Kaludrichkeit, ist Ihr Mann zu Hause?“ Ich sage ney, da bringt mich der Kerl wieder ins Schlafzimmer und … wie gesagt, mehrfach! Wenn er dann fertig ist, geht er eynfach! Ohne eyn Wort! Und das Tag fier Tag! Und jetzt komm und komm ich eynfach nicht darauf – was will der Kerl eyjentlich von meynem Mann?“
Platt sprachen vor allem die einfachen Leute, die Arbeiterschicht. Königsberg lag am Pregel und die Ostsee war nicht weit. Fisch war ein regelmäßiger Bestandteil der Ernährung.

Verkauft wurde Fisch nicht nur in Geschäften, sondern auch von den Königsberger Fischweibern, die berüchtigt waren für ihre derbe Sprache und ihre manchmal liedrigen Umgangsformen. Die Fischfrauen trugen weite, glockenartige Röcke. Von Zeit zu Zeit gingen sie in die Hocke, und wenn sie wieder aufstanden und weitergingen, hatte es unter ihnen geregnet. Sie zogen mit ihren Handkarren und ihren Fischen durch die Viertel. Bei ihnen bekam man Dorsche, Heringe, Strömlinge, Aale – alle Fischarten, welche die Region und die Ostsee zu bieten hatten.
„Strömling, wat gut Strömling!“, so priesen sie einmal in der Woche die heringsartigen Pregelfische in unserer Straße an. Mein Kumpel, der Horst Stonies, war einmal besonders vorwitzig und rief einer Fischfrau zurück: „Wat, gut Strömling? Puh, dine Fisch tun stinke!“ – „Wat seggst du? Mine Fisch tun stinke? Eck ward di forts eens runnerwinke!“ Und damit zog sie ihm den Dorsch, den sie gerade zur Hand hatte, rechts und links, den Schwanz voran, klatschend durchs Gesicht. Von da an hänselten wir Horst gelegentlich als Fischgesicht. Tja, wer sich in Gefahr begibt …
Manchmal kam freitags auch ein Heringshändler mit einer Tonne voller eingepökelter Heringe auf seinem Pferdewagen. Die konnte man wegen des hohen Salzgehalts nicht sofort essen, sondern musste sie erst einmal zwei Tage lang wässern. Mein Großvater liebte diese Salzheringe über alles und ab und an leistete er sich zwei. Wenn die sonntagmorgens endlich ausreichend entsalzt waren, briet Opa Franz sie in der Gusseisernen und verspeiste sie mit sichtlichem Genuss. Für Oma und mich war das nix – gebratene Salzheringe am Morgen, brrr!
Zurück zum Dialekt und den Königsberger Jungens. Aufs Maul gefallen waren sie nicht und oft auch dreist. Von Zeit zu Zeit waren unser Bäcker Giedigkeit und seine gute Frau Zielscheiben ihres Spottgesangs, den sie durch den Hausflur der Bäckerei tönen ließen:
Giedichkeit,
Die Welt vergeiht
Wegen diner Damlichkeit!
Manchmal waren die Lorbasse so mutig und trauten sich gar ins Geschäft: „Frau Giedichkeit, ham‘se noch Brot von gestern?“ „Ja!“ „Na, dann sehn‘se mal zu, dass sie es bald loswerden!“
Das verdross die brave Frau sehr. Ich hingegen stellte mich immer gut mit ihr. Ab und zu brachte ich ihr ein paar Dahlien aus unserem Garten. Die hatten so schöne große Blüten. Frau Giedigkeit freute sich jedes Mal und ich bekam zum Dank eine große Tüte mit Plunder und Kuchen. Amerikaner, Schnecken, Rumkuchen und so. In der Tüte waren bestimmt an die zehn Stücke drin. Das nennt man wohl „mit de Wurst na de Specksiet“ werfen.
Ein Teilchen kostete damals 5 Pfennige, genauso viel wie zwei Brötchen. In Königsberg sagten wir Semmel, so wie in Süddeutschland und Österreich. Das Drei-Pfund-Brot kostete 45 Pfennige. Gängig waren das Hamburger – das war ein angeschobenes Brot – und das Runde, das wie schon der Name verrät, rundum gebacken war. Die Angeschobenen waren an den Seiten nicht kross, weil (der Name sagt es) die Brotlaibe press aneinander in den Ofen geschoben wurden. Das rundum Gebackene war mir lieber, da ging die Kruste ums ganze Brot. Noch heute mag ich den Kanten, das knusprige Eckstück, am liebsten. In Königsberg hießen die Brotenden schlicht und einfach Kopf. Frischer, knuspriger Kopf mit „guter“ Butter oder mit Griebenschmalz – das schmeckte!
In der Königsberger Umgangssprache waren viele Worte dem Französischen entlehnt. Chemisette zum Beispiel heißt Hemdchen. Es war kein richtiges Hemd, sondern nur ein länglich rundes und gestärktes Brustteil. Man zog es übers Unterhemd (oder ohne) und darüber eine Jacke. Dazu noch einen steifen Kragen und gestärkte Manschetten, die man über die Handgelenke stülpte. Chemisette, Kragen und Manschetten täuschten so ein komplettes Hemd vor. Wenn ein Teil schmutzig wurde, musste man nur das waschen und nicht ein komplettes Hemd.
Im selben Haus wie Bäcker Giedigkeit, in der erste Etage, wohnte eine Plätterin. Zu der brachte man seine gewaschene Oberhemden, Chemisettes, Hemdkragen und Manschetten zum Plätten. Bügeleisen gab es zwar schon, aber nicht jeder Haushalt besaß eines. Auch war der Umgang damit umständlich. Sie waren aus Gußeisen und man musste sie immer wieder auf dem Kohlen- oder Gasherd erhitzen. Es gab auch welche, die innen hohl waren und die man mit glühender Holzkohle befüllte. Das war nicht ganz ungefährlich, man musste immer gut lüften, sonst drohte durchaus auch mal eine Kohlenmonoxidvergiftung und man lag längs auf dem Boden.
Französisch waren im täglichen Gebrauch auch weitere Begriffe wie Plumeau, Chaiselongue, Trottoir – Federbett, Sitzliege, Gehsteig. Oder Trumeau: das ist der Pfeiler zwischen Fenstern, aber auch die Bezeichnung für einen großen, schmalen Wandspiegel zwischen zwei Fenstern. Einen solchen hatten wir auch – keinen Platz, wenig Geld, aber immerhin einen französischen Spiegel! Nobel geht die Welt zugrunde.
Wird fortgesetzt …